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Der Nachfolger prägte die Kirche
Heinrich Bullinger ist zwar nicht so bekannt, aber er hat für die reformierte Welt eine herausragende Bedeutung. Sein Verdienst war nichts weniger als die Bestandessicherung der Reformation in Zürich nach dem zweiten Kappelerkrieg 1531.
Bullinger war alles andere als ein Kopfnicker von Obrigkeits Gnaden. Er hatte Visionen und Ideen, die längst nicht nur deckungsgleich mit dem Zürcher Establishment des 16. Jahrhunderts waren. Er wirkt in manchen Fragen für heutige Augen ungeheuer modern, in manch andern unheimlich fremd.
Der Nachfolger Zwinglis
1531 war es nicht von vornherein klar, dass nach dem Tod Zwinglis im erzwungenen zweiten Waffengang in Kappel am Albis gerade der Lehrer und Mit-Reformator des Kappeler Zisterzienserklosters an die Leutpriesterei des Zürcher Grossmünster berufen werden sollte.
Es hat auch andere Bewerber gegeben. Doch Bullinger verstand es, die Obrigkeit zu beruhigen. So hat er einerseits den Verzicht auf weitere (aussen)politische Ambitionen der Zürcher Geistlichkeit unterschrieben. Auf der andern Seite aber pochte er auf die Unabhängigkeit der biblischen Verkündigung.
Er hat sich bei seiner Wahl am9. Dezember 1531 ausdrücklich dagegen gewehrt, dass die Obrigkeit in die Verkündigung der Prädikanten, also der Pfarrer, hineinredet. Gleichzeitig nutzte Bullinger die Möglichkeit der ŤFürträgeť, der direkten Anträge an den Kleinen Rat der Stadt Zürich, um der Obrigkeit Anliegen der Pfarrschaft und der Kirche zu präsentieren.
Diakonie
Bullinger hatte dabei vor dem Rat keine andere Kompetenz als seine Überzeugungskunst und seinen Durchsetzungswillen. Es gab kein Gesetz, das ihm als ŤKirchenfürstenť ermöglicht hätte, irgend etwas zu befehlen.
Trotzdem hat er viel erreicht und verfügte über beträchtlichen Einfluss: Sei es, um den Erlös aus eingezogenen Kirchengütern den Bedürftigen zukommen zu lassen und die Armenfürsorge zu verbessern oder Unterkünfte für reformierte Glaubensflüchtlinge aus Italien und Frankreich zu organisieren.
Reformiertes Kirchenfundament
Als direkter Nachfolger Zwinglis hat er in seiner langen Amtszeit von 1531 bis zu seinem Tod 1575 das Fundament der Zürcher Kirche gelegt und damit die deutschsprachigen Kirchen in der Schweiz massgeblich mitgeprägt: Die Kirchen- und Synodalordnung, Liturgie und Gebetsbuch der Gottesdienste gehen auf ihn zurück.
Als Kirchenpolitiker zeichnete er sich durch direkte Einflussnahme zugunsten der Flüchtlinge, Armen und Waisen aus, war Schulherr der Vorläuferin der Zürcher Universität und hielt selbst unzählige Lehrpredigten und Vorlesungen. In wenigen Jahren wurde Bullinger vom Nachfolger zu einer der prägendsten Persönlichkeiten der reformierten Kirche.
Engagement und Einfluss
Heinrich Bullingers Tätigkeit war lokal, regional und international vernetzt: Er predigte dreimal die Woche im Grossmünster, beherbergte Studenten aus der Region und stand im Briefwechsel mit bekannten Kirchenleuten aus ganz Europa.
In Zeiten grosser wirtschaftlicher Not und Arbeitslosigkeit machte Bullinger den Vorschlag, mit Arbeitsbeschaffungsmassnahmen die Armut in der Stadt Zürich zu senken – ohne dass der Rat darauf eingetreten wäre.
Auf seine Initiative hin führte das Grossmünster Kollektensäcklein ein, deren Inhalt jeweils im Anschluss an den Gottesdienst direkt an die Notleidenden verteilt wurde.
Was er regional an christlicher Nächstenliebe zu organisieren wusste, brachte er international durch sein Schrifttum fertig: Seine Predigtsammlung der Dekaden, 50 teils aus Vorentwürfen und Studien verfertigte Lehrpredigten, wurde ein früher «Bestseller»: Verwendet als Predigt-Lehrbuch wie als persönliches Andachtsmittel, erlebten die Dekaden vielfältig übersetzt Auflage um Auflage bis ins 18. Jahrhundert hinein; ausgehend von Holland und England gelangten sie sowohl in die Neue Welt wie auch ins ferne Asien.
Übertroffen wurden die Dekaden nur durch Bullinger Privatbekenntnis, die nachmalige Confessio Helvetica posterior von 1566. Dieser persönliche Text wurde als Zweites Helvetisches Bekenntnis weltweit zum normativen Bekenntnis der reformierten Kirchen, vergleichbar Luthers Confessio Augustana von 1530, den altkirchlichen Bekenntnissen oder der Barmer Erklärung von 1933.
Das Helvetische Bekenntnis vermochte durch konsequenten Bezug auf die Bibel zu überzeugen: Reformiert ist, was sich durch die Heilige Schrift lenken lässt, nicht durch blinden Schriftgehorsam, sondern durch vernünftige, jedoch biblische Argumentation.
Schattenseiten
All dies kann und soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bullinger in vielen Fragen seiner Zeit verhaftet war. Wir wissen von seinen problematischen Stellungnahmen gegenüber den Täufern zur Zeit Zwinglis wie auch bei den späteren Täuferverhören oder im Prozess gegen den «Dreifaltigkeitszweifler» Michael Servet in Genf.
Und obwohl Bullinger an den jüdischen Schriften sehr interessiert war und den herrschenden, schroffen Antijudaismus und -semitismus nicht einfach teilte, solidarisierte er sich nie mit dem jüdischen Volk. Das, obwohl er als eine seiner Hauptlehren die Einheit des Alten Bundes mit dem Bund des Neuen Testaments vertrat, die in Kirche und Gesellschaft gegenwärtig weiterwirkt.
Sich der Person Heinrich Bullingers zu nähern heisst also nicht, sie zu verklären oder auf ein lokalpatriotisches Podest zu stellen. Damit dienten wir weder unserer Zeit noch unserer Kirche. Hingegen kann es lohnend sein, sich der widersprüchlichen Person aus der Distanz von 500 Jahren auszusetzen, deren Lebenszeit und Lebensumstände ernst zu nehmen und sich die Fragen von damals heute nochmals zu stellen.
Michael Baumann
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