In seinem einzigen literarischen Werk, dem Spiel über die Römerin Lucretia, schuf Heinrich Bullinger im altrömischen Gewand ein religiös-politisches Tendenzstück.
1533 wurde Heinrich Bullingers «Lucretia» in Basel und in Aarau aufgeführt. Dieses Drama in zwei Akten mit rund 1500 viertaktigen Reimpaarversen ist das einzige Stück Bullingers. Wahrscheinlich hat er es als 22-Jähriger während seiner Zeit als Lehrer an der Klosterschule Kappel geschrieben.
An Schulen und Universitäten wurde während des Humanismus und der Reformation sehr häufig Theater gespielt, und oft schrieben Lehrer die Stücke für ihre Schüler. In der Zeit der Glaubenskriege hatte das Theater propagandistischen Wert.
So förderten Luther und Zwingli die Bühne in ihrer Funktion als Kanzel. Wie aber kommt Bullinger, der überzeugte Anhänger der Reformation, dazu, eine Episode aus der altrömischen Geschichte aufzugreifen?
Zunächst: Bullinger bewegt sich in der Tradition. Die griechische und die römische Antike lieferten neben der Bibel die meisten Stoffe, und Lucretia-Bearbeitungen waren im 16. Jh. geläufig. Der auf den römischen Geschichtsschreiber Livius zurückgehende Stoff gehört in die Zeit um 500 v. Ch., als der letzte König, Tarquinius Superbus, vertrieben und die römische Republik begründet wurde.
Der Königssohn Sextus begehrt Lucretia, die Gattin seines Neffen Collatinus, und zwingt sie dazu, sich ihm hinzugeben. Lucretia gesteht ihrem Gatten, ihrem Vater und deren Freunden, unter ihnen Brutus, das Verbrechen und ersticht sich dann, weil sie ohne ihre Ehre nicht weiterleben kann. Brutus vertreibt den König; er und Collatinus werden die ersten Konsuln. Später verurteilt Brutus seine eigenen Söhne zum Tode, weil sie an einer Verschwörung teilgenommen haben, die die Rückkehr des Königs zum Ziel hat, und Collatinus verliert sein Amt als Konsul. Bullingers Stück hält sich weitgehend an diese Tradition.
Doch was ist vom literarischen, religiösen und politischen Gesichtspunkt aus das Eigene an seiner Version? Sie ist kein blosses Historienspiel, sondern ein aktuelles Tendenzdrama. «Wir haben dieses Spiel nicht selbst ausgedacht; es ist von den alten Römern überliefert, und es besteht die Gefahr, dass das, was damals geschehen ist, sogar nach zweitausend Jahren sich wieder ereignen könnte» (Übersetzung R.B.), sagt der Herold in seiner Schlussrede.
Bullinger hat mit seiner «Lucretia» die Verhältnisse in der Eidgenossenschaft im Visier. Die Tarquinier widerspiegeln die geistliche und die weltliche Herrschaft am Anfang des 16. Jahrhunderts. Sie ist gekennzeichnet durch Willkür, Sittenlosigkeit, Prunk, Wohlleben, Bestechlichkeit, Betrug und Heuchelei.
Die Analogie zum Papsttum zeigt sich im Machtstreben, in der Sittenlosigkeit und in der Vetternwirtschaft.
Mit allen Mitteln versucht «der alt böse Feind», den protestantische Dichter und Theologen oft als Teufel dargestellt haben, seine verlorene Macht wiederzugewinnen.
Dagegen helfen nur Festigkeit, Treue und Unnachsichtigkeit. Es gibt kein Drittes: Der kompromissbereite Konsul Collatinus wird aus dem Amt gejagt.
Die Analogie zur weltlichen Macht hat Bullinger – und das ist typisch schweizerisch – sehr stark herausgearbeitet. Im 16. Jh. bildete sich zusehends eine Aristokratie, die die politische Macht für sich beanspruchte.
In den Städten wurden die regimentsfähigen Bürger von der Mitbestimmung ausgeschlossen, und das Land geriet in wirtschaftliche und politische Abhängigkeit von den Städten. Der riesige Graben zwischen der absolutistischen Herrschaft und den verarmten Bauern führte zu Unruhen und Volksaufständen.
Dabei ging es nicht um eine Revolution, sondern um die Wiederherstellung der alten Rechte; für die Landbevölkerung um die Ausübung der niederen Gerichtsbarkeit und um die Freigabe von Jagd, Fischfang und Nutzung des Waldes.
Bullinger führt diese üblen Verhältnisse im ersten Akt eindrücklich vor: Da tritt ein Bauer auf, der beim König vergeblich sein Recht sucht. «Es herrscht auch hier viel Gewalt und Geiz, der Arme liegt allenthalben am Boden.
Jener kauft mit Geld, was ihn gelüstet, und meine Klage und mein Geschrei sind umsonst.» Unter Führung der städtischen Bürger und mit Hilfe der Landbevölkerung wird Tarquinius vertrieben. Der republikanische Gemeinsinn schafft soziale und politische Gerechtigkeit.
Auch in der eigenwilligen Komposition des Stücks ist die Tendenz erkennbar. Die handlungsstarken Teile, die Schändung der Lucretia und die Vertreibung des Königs, machen nur einen Drittel des Dramas aus; das Hauptgewicht liegt auf der Gründung der Republik und deren entschlossener Verteidigung gegen die Verräter.
Dabei sind die beiden Teile eng miteinander verknüpft: Es ist nämlich Lucretia, die die Rache an den Tarquiniern fordert. Ihr Tod ist nicht nur Folge der gekränkten Ehre, sondern ein politischer Akt, das Fanal zur neuen Ordnung. Sittlichkeit und Ehre des Einzelnen sind damit fest an das Staatswesen gebunden.
Bullingers «Lucretia» ist ein zeitkritisches Stück, das für Kirche und Staat Zucht und Ordnung, Gerechtigkeit und Freiheit, Gemeinsinn und Genügsamkeit fordert.