Bremgarten: Hier wurde Bullinger geboren.
Artikel von Christine Voss und Delf Bucher aus "Kirchenbote für den Kanton Zürich", 10/2004
Der Lebensweg Heinrich Bullingers begann in Bremgarten und führte über Kappel am Albis nach Zürich. Die wichtigsten Stationen, kommentiert von heutigen ŤNachfolgernť.
Bremgarten: Hier wurde Bullinger geboren.
Bullinger und Bremgarten das ist bis heute eine spannungsreiche Beziehung geblieben. Heinrich Bullinger ist in Bremgarten geboren. Er hat die Stadt 1529 reformiert, wurde aber nach der Schlacht von Kappel 1531 ins Zürcher Exil gezwungen. Die bald danach wieder zum Katholizismus übergetretene Heimatstadt sollte er nie mehr sehen. 500 Jahre später ging der Anstoss vom Katholiken Heinz Koch aus, dem Ťberühmtesten Sohnť Bremgartens endlich ein Strassenschild zu verschaffen. Beim Katzenturm, dort wo Bullinger im August 1531 zum letzten Mal Zwingli traf, wird nun am 16. Mai ein ŤBullinger-Rainť eingeweiht werden.
Stadtführer Koch auf Bullinger-Tour
Während meines Theologiestudiums Anfang der 60er Jahre war der junge Bullinger praktisch inexistentť, bedauert Pfarrer Christoph Hürlimann, stellvertretender Leiter des ŤHaus der Stilleť in Kappel am Albis. Erst im Bullinger-Jahr hat er sich daran gemacht, die Schriften der Kappeler Zeit genauer zu studieren und entdeckt: ŤBullinger hat in Kappel ganz eigenständig eine reformatorische Theologie entwickelt.ť
Das Besondere dabei: Abgeschieden hinter den Mauern des Zisterzienserklosters hat Bullinger das Programm des Ťneuen Glaubensť formuliert. 1522 fragte der Abt Wolfgang Joner den aus Köln zurückgekehrten, frischgebackenen Magister, ob er nicht die Klosterschule leiten wolle. Bullingers überraschende Antwort: Nur wenn er nicht zum Hören der katholischen Messe verpflichtet werde. Der Abt stimmte zu. ŤMit Bullinger verpflichtete er mehr als seine rechte Hand. Bullinger wurde die treibende Kraft, welche die Mehrheit der Klostergemeinschaft von den reformatorischen Ideen überzeugteť, sagt Hürlimann.
Kloster Kappel: Heute ein reformiertes Bildungshaus (vorne Christoph Hürlimann)
Bullinger legte den Schülern, Mönchen und dem ŤGesindeť die Bibel in deutscher Sprache aus und stellte damit die Weichen für radikale Reformen im Kloster: 1525 wurden die Fresken in der Kirche übertüncht. 1526 legten die Mönche ihre Kutten ab. Für Hürlimann ist dabei eines wichtig: Vieles geschah im Gleichschritt mit Zürich. Das Etikett ŤReformator der zweiten Generationť, das Bullinger oft anhaftet, will er im Blick auf die Kappeler Jahre nicht gelten lassen. Der Zwingli-Nachfolger sei schon als ganz junger Mann er trat mit 19 Jahren seinen Schuldienst an auf der Höhe der Zeit gewesen. Bullinger begrenzte sich nicht auf Kappel, sondern versuchte auch rings um Kappel das Feuer für die Reformation zu entzünden und korrespondierte mit reformiert gesinnten Priestern im katholischen Kanton Zug. Kein Wunder, dass im benachbarten Kanton das Kloster als Bollwerk der ŤLutheranerť in Verruf kam. Nicht zufällig plünderten die Innerschweizer nach der erfolgreichen Schlacht von Kappel das Kloster. Offene Rechnungen wurden so beglichen. bu
Das grosse Altstadthaus neben dem Grossmünster, das 40 Jahre lang Wohnsitz von Bullinger war, ist beladen mit Geschichte. Nicht nur die wuchtigen alten Mauern machen dies deutlich, sondern auch kleinere Überbleibsel aus früheren Zeiten, zum Beispiel die von Hand zu bedienende, durchdringend scheppernde Türglocke im Hauseingang. ŤSie wird aber nicht mehr gebrauchtť, lacht Pfarrerin Käthi La Roche, die heute das Haus bewohnt.
Zürich: Pfarrerin Käthi La Roche...
... vor Bullingers ehemaligem Pfarrhaus neben dem Grossmünster.
Seit 1536, als Bullinger in das damalige Chorherrenhaus zog, ist es Sitz des jeweils amtierenden Grossmünster-Pfarrers, seit 1999 zum ersten Mal Wohnhaus einer Pfarrerin. Bis 1833 war es gleichzeitig ŤAntistitiumť, das heisst der Sitz des Vorstehers der gesamten Zürcher Pfarrschaft ein Amt, das traditionellerweise dem Grossmünster-pfarrer oblag.ŤFür mich ist es tatsächlich spürbar, dass sich in diesen alten Mauern Entscheidendes abgespielt hatť, bestätigt Käthi La Roche. ŤManchmal stelle ich es mir bildlich vor: Wie Bullinger hier aus und ein ging, hier lebte mit seiner Frau, elf Kindern, täglich einkehrenden Gästen und unzähligen Glaubensflüchtlingen, die er bei sich beherbergte.ť Wo er sich da noch hätte zurückziehen können, um die 7000 von ihm gehaltenen Predigten und seinen rund 12000 Briefe umfassenden Briefwechsel zu schreiben, kann sich La Roche kaum vorstellen. ŤAber damals waren wohl die Ansprüche an Ruhe und Raum anders als heute.ť
In diesem Haus zu wohnen, lasse einen nicht unberührt. Und es geht der Pfarrerin wie vielen, die sich auf Leben und Werk des ŤNachfolgersť einlassen: Je mehr man von ihm weiss, desto faszinierender wird er. ŤZwingli war der Stürmer, der vieles angerissen hat, Bullinger hingegen hat die Reformation 44 Jahre lang beharrlich durchgehalten, in schwierigsten Zeiten. Das zeigt mir, dass es beides braucht in der Kirche: Jene, die anreissen, und jene, die durchtragen.ť Ohne Bullinger, so vermutet La Roche, wäre die Reformation nach Zwinglis Tod versandet.
Das Erbe Bullingers im Auge zu behalten das sieht Käthi La Roche denn auch als eine ihrer Aufgaben an. Um über seine Bedeutung nachzudenken, wollen die Gross-münsterpfarrer bis zum Herbst jeden Sonntag einen Artikel aus Bullingers ŤZweitem Helvetischem Bekenntnisť auslegen. cv
Armut lernte Bullinger schon als zwölfjähriger Bettelstudent kennen. Sein Vater schickte ihn mit kaum etwas Geld im Sack in die Fremde. Auf diese Weise sollte er Ťdas unglückliche Los der Bettelndenť am eigenen Leibe erfahren. Hat die drastische Lektion beim Zürcher Reformator etwas gefruchtet? ŤBullinger hat sich dafür eingesetzt, dass die Einnahmen aus dem früheren Kloster- und Kirchenbesitz weiterhin der Armenfürsorge zuflossenť, erklärt die Historikerin Barbara Helbling. Das war keinesfalls eine Selbstverständlichkeit, wie sie betont. Denn nach der Ťsozialen Katastrophe von Kappelť waren die Kassen leer und die Begehrlichkeiten gross, diese Gelder anderen Zwecken zukommen zu lassen. Bullinger und die Vorsteher des Almosenamtes schafften es mit ihrer Autorität, dass der Kirchenschatz wirklich den Bedürftigen zukam.
Mit Barbara Helbling in der Zürcher Altstadt: Das ehemalige Kloster St. Verena, in das nach der Reformation die Druckerei Froschauer zog.
Wer aber war berechtigt, im ŤMushafenť gratis Speisen zu erhalten oder sich einkleiden zu lassen? ŤDie Diskussion gleicht den sozialpolitischen Debatten von heute: die Angst vor Missbrauch war grossť, erklärt Helbling. Das ŤArmutszeugnisť wurde nur ansässigen Stadtbewohnern ausgestellt. Überhaupt grassierte in den Notzeiten nach der verlorenen Schlacht bei Kappel der Egoismus. ŤWenige Jahre zuvor war noch für Schenkungen an Klöster viel Geld dať, sagt Helbling. Aber seit die Spenden den Gönnern nicht mehr das Eintrittsbillett fürs Himmelreich sicherten, tröpfelten die Almosen nur noch spärlich. Bullinger sann auf eine listige Massnahme, um die Spendenfreudigkeit zu heben: den ŤStecklisackť. Der Klingelbeutel wurde unter den strengen Augen der Kirchenpflege den Gottesdienstbesuchern am Eingang entgegengestreckt; das Geld wurde unmittelbar nach dem Gottesdienst an Bedürftigte verteilt. ŤDas schaffte die nötige soziale Kontrolle, um etwas beherzter ins Portemonnaie zu greifenť, sagt Helbling. Auch in einem anderen Punkt, wohl Bullingers grösste soziale Wohltat, brach der Reformator den Stadtzürcher Egoismus: bei der Exilpolitik. Dank seinem Engagement wurde Zürich zum rettenden Hafen für viele Glaubensflüchtlinge. bu