Artikel aus "notabene", 01/2004

Heinrich Bullinger hat für die reformierte Welt eine herausragende Bedeutung. Zwar ist er weitaus weniger bekannt als sein Vorgänger und Freund Huldrych Zwingli und auch weniger als Johannes Calvin. Doch sein Verdienst war nichts weniger als die Bestandessicherung der Reformation in Zürich nach dem zweiten Kappelerkrieg 1531.

Was in einem unvergleichlichen Fiasko hätten enden können, gelangte dank dem besonnenen Bremgartner in ruhigere Bahnen. Doch Bullinger war alles andere als ein Kopfnicker von Obrigkeits Gnaden. Er hatte Visionen und Ideen, die längst nicht nur deckungsgleich mit dem Zürcher Establishment des 16. Jahrhunderts waren. Er wirkt in manchen Fragen für heutige Augen ungeheuer modern, in manch andern unheimlich fremd.

Ein kluger Taktiker

1531 war nicht von vornherein klar, dass nach dem Tod Zwinglis gerade der Lehrer und Mit-Reformator des Kappeler Zisterzienserklosters an die Leutpriesterei des Zürcher Grossmünsters berufen werden sollte. Andere Mitbewerber hat es gegeben. Doch Bullinger verstand es, zum einen die Obrigkeit zu beruhigen und den Verzicht auf weitere (aussen)politische Ambitionen der Zürcher Geistlichkeit zu unterschreiben, andererseits aber auch auf die Unabhängigkeit der biblischen Verkündigung zu pochen. Er hat sich bei seiner Wahl ausdrücklich dagegen gewehrt, dass die Obrigkeit in die Verkündigung der Prädikanten, also der Pfarrer, hineinredet. Gleichzeitig nutzte Bullinger die Möglichkeit der ŤFürträgeť, direkten Anträgen an den Kleinen Rat der Stadt Zürich, um Anliegen der Pfarrschaft und der Kirche der Obrigkeit zu präsentieren.

Keine formelle Macht, aber viel Autorität

Heinrich Bullinger hatte dabei vor dem Rat keine andere Kompetenz als seine Überzeugungskunst und Durchsetzungswillen. Es gab kein Gesetz, das ihm als ŤKirchenfürstenť ermöglicht hätte, irgend etwas zu befehlen. Trotzdem erreichte er viel. Über beträchtlichen Einfluss verfügte er gerade darum, weil er offiziell keinen hatte: Sei es, um den Erlös aus eingezogenen Kirchengütern den Bedürftigen zukommen zu lassen, um die Armenfürsorge zu verbessern oder um Plätze für reformierte Glaubensflüchtlinge aus Italien und Frankreich zu organisieren.

Das Fundament der Zürcher Kirche gelegt

Als direkter Nachfolger Zwinglis hat er in seiner langen Amtszeit von 1531 bis zu seinem Tod 1575 das Fundament der Zürcher Kirche gelegt und damit die deutschsprachigen Kirchen in der Schweiz massgeblich mitgeprägt: Die Kirchen- und Synodalordnung, Liturgie und Gebetsbuch der Gottesdienste gehen auf ihn zurück. Er zeichnete sich durch direkte Einflussnahme als Kirchenpolitiker zugunsten der Flüchtlinge, Armen und Waisen aus, war Schulherr der Vorläuferin der Zürcher Universität und hielt selbst unzählige Lehrpredigten und Vorlesungen. In wenigen Jahren wuchs Bullinger vom Nachfolger zu – wenn nicht zum Vollender – so doch zu einer der prägendsten Persönlichkeiten der reformierten Kirche.

Die Bullingertafel

Stein gewordene Anerkennung für den Retter der Reformation am Haus, in dem noch heute ein Grossmünster-Pfarramt untergebracht ist.

Begnadeter Kommunikator, progressiver Sozialpolitiker

Seine Tätigkeit war lokal, regional und international vernetzt: Gleichzeitig predigte er dreimal die Woche im Grossmünster, beherbergte Studenten aus der Region und stand im Briefwechsel mit bekannten Kirchenleuten aus ganz Europa.

In Zeiten grosser wirtschaftlicher Not und Arbeitslosigkeit machte Bullinger den Vorschlag, mit Arbeitsbeschaffungsmassnahmen die Armut in der Stadt Zürich zu senken – ohne dass der Rat darauf eingetreten wäre. Seiner Initiative war es zu verdanken, dass das Grossmünster Kollektensäcklein einführte, deren Inhalt dann jeweils im Anschluss an den Gottesdienst direkt den Notleidenden verteilt wurde.

Seine Predigtsammlung der Dekaden, 50 teils aus Vorentwürfen und Studien verfertigte Lehrpredigten, wurde ein früher ŤBestsellerť: Verwendet als Predigt-Lehrbuch wie als persönliches Andachtsmittel, erlebten die Dekaden vielfältig übersetzt Auflage um Auflage bis ins 18. Jahrhundert hinein. Ausgehend von Holland und England gelangten sie sowohl in die neue Welt wie auch ins ferne Asien.

Meilenstein der Kirchengeschichte: Das Zweite Helvetische Bekenntnis

Übertroffen wurden die ŤDekadenť nur durch Bullingers Privatbekenntnis, die nachmalige Confessio Helvetica posterior von 1566. Geschrieben zwar als momentaner, persönlicher Text, wurde es als Zweites Helvetisches Bekenntnis weltweit als normatives Bekenntnis der reformierten Kirchen verstanden. Obwohl es wie alle Bekenntnisse sehr der Entstehungssituation verpflichtet war, vermochte es durch konsequenten Bezug auf die Bibel zu überzeugen: Reformiert ist, was sich durch die Heilige Schrift lenken lässt, nicht durch blinden Schriftgehorsam, sondern durch vernünftige, jedoch biblische Argumentation. Nicht umsonst wurde eine der Überschriften zum (auch missverstandenen!) Merkwort des reformierten Predigtverständnis schlechthin: Die Predigt ist das Wort Gottes.

Schattenseiten

Das kann und soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bullinger in vielen Fragen mehr als nur der Zeit verhaftet war. Wir wissen von seinen problematischen Stellungnahmen gegenüber den Täufern zur Zeit Zwinglis wie auch bei den späteren Täuferverhören oder im Prozess gegen den ŤDreifaltigkeitszweiflerť Michael Servet in Genf. Und obwohl Bullinger sehr interessiert an den jüdischen Schriften war und den herrschenden, schroffen Antijudaismus und -semitismus nicht einfach teilte, solidarisierte er sich nie mit dem jüdischen Volk.

Sich der Person Heinrich Bullingers zu nähern heisst also nicht, sie zu verklären oder auf ein lokalpatriotisches Podest zu stellen. Damit dienten wir weder unserer Zeit noch unserer Kirche. Hingegen kann es lohnend sein, sich der widersprüchlichen Person aus der Distanz von 500 Jahren auszusetzen, deren Lebenszeit und -umstände ernst zu nehmen, und sich die Fragen von damals heute nochmals zu stellen.

Pfr. Michael Baumann, Institut für Schweizerische Reformations-geschichte, Universität Zürich. Der Autor ist wissenschaftlicher Leiter der Bullinger-Ausstellung 2004 und Pfarrer in Dorf ZH.