1. Täuferbewegung und reformierte Kirche haben sich aus der gemeinsamen Wurzel der Reformation heraus entwickelt; nachdem sie lange gegeneinander oder nebeneinander lebten, dürfen sie nun stärker miteinander ins Gespräch kommen.
2. Damit kann die eine der anderen fruchtbar zu denken geben, da beide vor neuen Aufgaben stehen, die sie zur Selbstreflexion herausfordern.
3. Dabei geht es nicht darum, alle Unterschiede einzuebnen, sondern diese konstruktiv wirken zu lassen; Versöhnung ist nicht Unterschiedslosigkeit, sondern "Einheit in versöhnter Verschiedenheit".
4. In Hinsicht auf das Kirchenverständnis ist der Gegensatz "Volkskirche/Bekenntniskirche" eine vereinfachende Annäherung - als ob es in täuferischer Perspektive kein "Volk" gäbe und als ob Bekenntnisfreiheit in reformierter Tradition die Kirche der Aufgabe des Bekennens entledigte!
5. Auf je eigene Art müssen sich beide Strömungen mit beiden Aspekten beschäftigen: ein offenes, kreatives Zeuge-Sein und ein freier, verantwortlicher Umgang mit der Öffentlichkeit.
6. Eine relativ offen, formal geregelte Mitgliedschaft (extrem: durch Kirchensteuer!) erlaubt es, die Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche aufrechtzuerhalten, stiftet aber die Gefahr der Unverbindlichkeit. Eine relativ strenge, auf freiwilligem Einsatz gründende Mitgliedschaft stiftet zwar Verbindlichkeit, enthält aber die Gefahr, bei dieser Freiwilligkeit zu behaften und sie so zum Zwang werden zu lassen.
7. Die täuferische Tradition tendiert zu einer direkten Mitteilung, die Wort und Glaube in gelebter Echtheit zum Vorschein kommen lassen will (Gefahr der Veräusserlichung). Für die reformierte Tradition sind Wort und Glaube Gegenstand einer indirekten Mitteilung, in der Überzeugung, dass jeder Mensch sich in Freiheit dazu stellen soll (Gefahr der Verinnerlichung).
8. Reformierte Kirche will die Menschen möglichst breit ansprechen und bemüht sich deshalb, die Sprache dieser Menschen zu sprechen, steht dabei in Gefahr, ihre Eindeutigkeit zu verlieren. Täuferische Kirche bringt ihre Botschaft mit einer traditionsgeprägten Sprache zum Ausdruck, die damit erreichte Eindeutigkeit erhöht aber für Aussenstehende die Hürde der Verständlichkeit.
9. Hatte die reformierte Tradition die Kindertaufe als Zeichen der bedingungslosen Gnade Gottes betont, entdeckt sie heute, bei schwindendem Volksbezug, die Erwachsenentaufe als Zeichen eines verbindlichen Einstehens für den Glauben. Hatte die täuferische Tradition die Erwachsenentaufe als bekenntnishafte Verpflichtung des Glaubenden verstanden, entdeckt sie heute die Aufgabe, Familienleben in der modernen Welt in die Zusage der Liebe Gottes einzubetten (Darbringung als Quasi-Taufe?).
10. Im Umgang mit der Öffentlichkeit gibt sich die Täuferbewegung zur Aufgabe, den Kontrast zur Welt zum Ausdruck zu bringen (Antithesen der Bergpredigt), kommt dabei in die Gefahr, den Rückzug aus der Welt zu privilegieren (Freikirche als "weltfreie" Kirche?). Die reformierte Kirche versteht sich als der Welt, der Gesellschaft, dem Land eng verbunden (Landeskirche), kommt dabei leicht in den Verdacht der Verweltlichung.
11. Reformierte Kirche lebt aus der Tradition der Mehrheitskirche, könnte aber zunehmend mit den Schwierigkeiten einer Minderheitskirche konfrontiert werden. Täuferische Kirche versteht sich traditionell als Minderheitskirche, könnte aber zunehmend mit Herausforderungen der Mehrheitskirche konfrontiert werden. An möglichen Kreuzungen dieser Entwicklungen sollten sie einander helfen...
Pierre Bühler, Professor für Systematische Theologie, Universität Zürich